Museumsarbeit hör- und tastsinnig – Workshop zu Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung für die Kulturelle Vermittlungsarbeit
Die Andersicht-Jahrestagung findet vom 28. bis 31. Oktober in Schleswig statt. Wie immer ist die Ortswahl kein Zufall. Wir suchen uns stets einen Veranstaltungsort voller hör- und tastsinniger Inspiration, um auf bisherige Arbeit zurück zu schauen und Impulse für Neues zu gewinnen.
Wenn wir in Schleswig die Kulturvermittlung in Museen und Ausstellungen in den Fokus nehmen, geht es darum, wichtige Erfahrungen und Einsichten der zurückliegenden zwei Jahre festzuhalten und mit Partnern aus der Praxis der Kunstvermittlung und Ausstellungsgestaltung zu teilen.
Kulturvermittlung mit Abstand – was geht? Was bleibt?
Diese Frage wird sich wie ein roter Faden durch unsere aktuelle Positionsbestimmung ziehen. In Impulsreferaten und kurzer Plenardiskussion werden drei Schwerpunktbereiche diskutiert, die nach der Mittagspause und vor einer abschließenden Fazit-Runde in Gruppen besprochen werden sollen:
Planungs- und Entwicklungsarbeit mit Fokusgruppen;
Taktile Veranschaulichungsmittel in der Kulturvermittlung;
Zielgruppen übergreifende Sensibilisierung für verständliche Sprache.
Vor allem in der Zusammenarbeit mit dem Iwalewahaus Bayreuth, der Kunsthalle Kiel und der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen haben Mitglieder von Andersicht vor und während der Pandemie den Horizont und das Know-how erweitert. In unserem Workshop soll es um diese Aspekte gehen:
Und nun hoffen wir, dass möglichst viele Praktikerinnen und Praktiker aus dem Museumswesen unser Symposium als produktives Gesprächsangebot verstehen und den Termin als Möglichkeit zu Erfahrungsaustausch und weiterer Vernetzung aufgreifen.
Das Museum für Kunst und Kulturgeschichte auf Schloss Gottorf hatte sich entschieden, die monografische Ausstellung Farbrausch auch für blinde und sehbehinderte Besucherinnen und Besucher zum Erlebnisraum zu machen. Das bot sich an, weil der Berliner Maler Christopher Lehmpfuhl überaus haptisch arbeitet und sich als „malender Bildhauer“ sieht. Das inklusive Angebotskonzept wird auf einer extra Service-Seite vorgestellt.
Das Erfolgskonzept Fokusgruppe
Bemerkenswert an der Entscheidung, eine maximale Zugänglichkeit für blinde und sehbehinderte Ausstellungsbesucher herzustellen, ist nicht nur, dass sie überhaupt getroffen wurde, sondern
dass dies schon sehr frühzeitig geschah, nämlich schon zu Beginn der Vorbereitungsarbeiten zur Ausstellung;
dass eine engagierte Kunstvermittlerin speziell mit dieser Aufgabe betraut wurde;
dass diese die Konzeption mit einer Fokusgruppe aus Expertinnen und Exxperten in eigener Sache erarbeitete;
dass zu dieser Fokusgruppe auch mehrere Mitglieder von Andersicht gehörten, welche verschiedene Kompetenzen einbringen konnten und
dass die Fokusgruppe kontinuierlich und umfassend den ganzen Vorbereitungsprozess beratend begleiten durfte.
Julia Brunner, die seitens der Kunstvermittlung für die Umsetzung des Inklusionsanspruchs zuständig war, nahm im Sommer 2020 Kontakt auf zu verschiedenen Institutionen und Organisationen, um eine möglichst breite Expertise zu mobilisieren. Dies waren
Seit August 2020 war die Fokusgruppe durch in der Regel monatliche Zusammenkünfte in den gesamten Erstellungsprozess der Inklusionsmaßnahmen einbezogen – zunächst in Präsenzveranstaltungen und dann – pandemiebedingt – per Zoom-Konferenzen, E-Mail-Verkehr und Telefonate. Wichtig für das Gelingen war, dass das Museum und sein Bereich Kunstvermittlung hinter dieser Arbeit standen, dass der Künstler selbst aufgeschlossen war und einbezogen werden konnte. Christopher Lehmpfuhl nahm sich Zeit für ein Video-Gespräch mit der im Schloss Gottorf versammelten Fokusgruppe. Dr. Ingo Borges als Kurator unterstützte die konzeptionelle Arbeit in großer Aufgeschlossenheit.
Zunächst wollte Julia Brunner von der Fokusgruppe wissen, was für die blinden und sehbehinderten Besucher wichtig ist, um eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen. Die dabei zusammengetragenen Aspekte wurden dann in Planungsmodule übernommen. Im folgenden wird auf diese Elemente näher eingegangen.
Audioführung mit Statements des Künstlers, Bildbeschreibungen und Orientierungshinweisen
Unstrittig war, dass es einen Audioguide geben musste. Reizvoll war, dass Christopher Lehmpfuhl selbst durch Statements zu den verschiedenen, in der Ausstellung gezeigten Aspekten daran teilnehmen würde. Damit war auch klar, dass die Produktion in Berlin stattfinden musste.
Weitere Komponenten sollten sein
Beschreibungen zu ausgewählten Werken und
Hinweise für die Orientierung innerhalb des Ausstellungsraums.
Die Gruppe setzte als Prämisse, dass es zu jeder Station auch eine Werkbeschreibung geben sollte.
Mit der Studioproduktion wurde auf Empfehlung von AndersichtAnke Nicolai beauftragt. Sie hätte auch Autorinnen für die Audiodeskription vermitteln können, doch hatten wir diese Kompetenz bereits selbst an Bord. Anke Nicolai gehörte schon in den 2000er Jahren zum Nordteam der Filmbeschreiber um Hela Michalski. Hela Michalski (auch stellv. Vorsitzende von Andersicht) gehört zum Fokusteam. Die blinde Hörfilmautorin hat die Werkbeschreibungen für diesen Audioguide gemeinsam mit Julia Brunner erarbeitet, für die das, wie sie mehrfach und begeistert sagte, eine sehr wichtige Berufserfahrung wurde. Hier als Kostprobe eine der so entstandenen Bildbeschreibungen.
Der ganze, sehr hörenswerte Audioguide kann bis zum Ende der Ausstellung hier abgerufen werden.
Eine Frage, die wir frühzeitig aufwarfen und mit den Erfahrungen von Andersicht auch umfassend ausleuchten konnten, war die nach der medialen Verfügbarkeit des Audioguides. Das Museum wollte eine Web-Applikation, also einen Guide, der mit jedem auf PCs, Tablets und Smartphones verwendeten Browser benutzt werden kann. Uns war wichtig, dass dieser gut bedienbar sein müsste in
Nutzbarkeit aller enthaltener Informationen und Bedienelemente auch per Screenreader – im Falle des am weitesten unter blinden Nutzern verbreiteten iPhone ist das VoiceOver;
einfache, nachvollziehbare Struktur der Benutzeroberfläche;
leichte Auffindbarkeit und Aufrufbarkeit des eGuides.
Länger diskutiert wurde die alternative Aufrufbarkeit der einzelnen Stationen des Rundgangs per QR-Code. Hierfür wurde dann in Konsultation mit weiteren Praxispartnern eine leicht nachvollziehbare Umsetzung gewählt. Die QR-Codes wurden auf dem Fußboden rechts neben lang gestreckten Aufmerksamkeitsfeldern im taktilen Bodenleitsystem so aufgebracht, dass sie mit der Kamera des Smartphones erkannt werden, ohne dass es nötig wird, genau auf ein kleines Code-Feld zu zielen. Das funktioniert auch tatsächlich.
Wir drängten sehr darauf, die angebotene Browser-App rechtzeitig blind testen zu können. Das erwies sich als unbedingt richtige Vorkehrung. Tatsächlich gab es Nachbesserungsbedarf.
Zwar ist die Benutzung des Smartphones unter blinden Menschen als Kulturtechnik sehr weit verbreitet und wird recht gut beherrscht. Uns war es dennoch wichtig, eine Alternative anbieten zu können, die noch einfacher zu handhaben ist. Inzwischen hat die Nutzung von Hörbüchern einen hohen Standard erreicht. Hörbüchereien bieten sie an als Bestellung per Download. Diese gemeinnützigen Hörbüchereien sind organisiert in der Mediengemeinschaft für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen e. V. (Medibus). Unser Ansprechpartner dabei war die Norddeutsche Blindenhörbücherei (NBH) mit Sitz in Hamburg. Weil die Inhalte schon vorhanden waren, hielt sich die Nachbearbeitung in Grenzen. Die sog. DAISY-Struktur war noch darüber zu legen, das bedeutet eine Indexierung und Hierarchisierung für eine Navigation zwischen Überschriften verschiedener Ebenen und sogar einzelnen Sätzen. Das ist mittlerweile mit maschineller Unterstützung zu machen.
So ein DAISY-Hörbuch kann übrigens auch mit einfachen MP3-Playern genutzt werden. Der Audioguide zur Christopher-Lehmpfuhl-Ausstellung wurde also ganz rasch als DAISY-Hörbuch aufbereitet und durch die NBH als ZIP-Archiv zum Download bereit gestellt. Wir können uns vorstellen, dass derartige Audioguides künftig ins reguläre Ausleihverfahren per Katalog einbezogen werden.
Orientierungskonzept mit Bodenleitsystem, akustischen Wegbeschreibungen und taktilen Lageplänen
Neben der Zugänglichmachung inhaltlicher Informationen ist die Orientierung das zentrale Thema bei einem Ausstellungsbesuch blinder bzw. hochgradig sehbehinderte Besucher. Innerhalb der Ausstellung ist es hilfreich, wenn sich blinde Menschen selbständig bewegen können. Entweder sie kommen ohne sehende Begleitung oder sie möchten selbstbestimmt durch die Ausstellung gehen und ihrer Begleitung auch mal einen Freiraum geben.Bodenleitsyste
Weil wir immer auch überlegen, wie sich der Nutzen von Spezialmaßnahmen im Sinne eines Designs für alle maximieren lässt, brachten wir mit Erfolg den Vorschlag ein, die Verlegung eines Bodenleitsystems mit dem Orientierungsbedarf für die Gesamtheit der Besucher zu verknüpfen. Die Idee war, die Leitstreifen so zu verlegen, dass sie auch als Abstandsempfehlung zu den Kunstwerken zu verstehen sind.
Orientierungshinweise für blinde Ausstellungsbesucher
Nun machen Leitlinien an sich keinen Sinn, wenn wir nicht wissen, wohin genau sie uns führen sollen. Diese Informationen wurden in den Audioguide integriert. Hier daraus zwei Beispiele. Zunächst die Überblicksbeschreibung, die den blinden Besuchern eine räumliche Vorstellung vom Gebäude vermittelt.
Nachdem zu jeder einzelnen Station die Werkeinführung von Christopher Lehmpfuhl und die Audiodeskription zu einem ausgewählten Kunstwerk zu hören waren, folgt jeweils ein Orientierungshinweis, der hilft, zur nächsten Station zu gelangen. Dafür hier ein Beispiel.
Wegbeschreibungen
Zum Servicepaket, das wir gemeinsam schnürten, gehören auch Hinweise für die Anreise. Hierbei kam es uns darauf an, dass möglichst alle wesentlichen Optionen berücksichtigt würden:
Die Zielgruppe ist differenziert in blinde Besucher, die allein reisen oder in Begleitung;
Blinde Besucher, die sich mit dem Langstock orientieren oder mit einem Führhund unterwegs sind;
Besucher, die mit der Bahn anreisen und dann mit dem Bus zur Schlossinsel fahren;
Reisende, die vom Bahnhof ein Taxi bevorzugen;
Menschen, die mit einem Auto auf die Schlossinsel gebracht werden.
Die Wegbeschreibungen hat dann ein Team von Andersicht e. V. erstellt. Es bestand aus dem sehenden Rehabilitationslehrer Karl Elbl und dem blinden Stockgänger Jürgen Trinkus.
Andersicht hat schon zahlreiche Wegbeschreibungen gestellt und geht auf dieses Thema in einem gesonderten Beitrag ein.
Tastobjekte und Mitmach-Angebote
Tastobjekte
Das Budget sah vor, zwei Bildwerke in tastbare Objekte umzusetzen. Die Fokusgruppe entschied in einer gründlichen Diskussion, welche Werke umgesetzt werden sollten. In der Diskussion spielte eine wesentliche Rolle, welche prägenden Momente aus Lehmpfuhls Exponaten sollen sinnfällig gemacht werden und welche eignen sich dafür. Expressivität und Gestaltungstechniken sollten fühlbar werden. Es war klar, dass dies nur möglich wird, wo vereinfachende Darstellungen vertretbar und zielführend sind und bei der Umsetzung ein Maximum an Gestaltungsmomenten vermittelt werden kann.
Die Entscheidung fiel für ein Werk aus dem Bereich der Berglandschaften und eines aus den Stillleben.
Die Aufträge wurden dann ausgeschrieben, und die Bewerbungen zweier Agenturen wurden durch die Fokusgruppe diskutiert. Als die Entscheidung für Inkl. Design gefallen war, wurden die Umsetzungskonzepte in einer Videokonferenz mit der Agentur diskutiert. Anregungen und Wünsche aus der Gruppe fanden Eingang in die endgültige Gestaltung der ausgewählten Objekte.
Die Audiodeskriptionen zu den Tastobjekten verdeutlichen, worauf es ankam.
Besonders intensiv hat sich die Fokusgruppe mit dem Tastmodell Gläser-Stillleben auseinandergesetzt, ging es doch darum, Perspektive handgreiflich zu machen. Das ist ein besonders schwieriges Ding für Früherblindete, die nicht auf eigene Seherfahrung zurückblicken können.
Der Mitmach-Raum
Das Landesförderzentrum Sehen war direkt beteiligt durch die zwei Kunsterzieherinnen und Sonderschulpädagoginnen im Ruhestand Barbara Wolter und Susann Lokatis-Dasecke. Im Jahr 2008 erschien ihr Standardwerk Gemeinsam kreativ: Integrativer Kunstunterricht mit blinden Schülerinnen und Schülern bei der Edition Bentheim. Ihr Beitrag zur Lehmpfuhl-Ausstellung war vor allem die Gestaltung eines „Mitmach-Raums“. Darin wurden Formen und Farben aus den Gemälden der Ausstellung tastbar gemacht, sodass sich interessierte Besucherinnen und Besucher mit dieser anderen Wahrnehmungsweise auseinandersetzen können und die Möglichkeit zu eigenen Tast-Erfahrungen bekommen.
Weitere Handreichungen
Blinde Ausstellungsbesucherinnen und -besucher können mit ihren Tickets auch eine kleine Übersichtsbroschüre in Brailleschrift und einen Lageplan für die Schlossinsel und das Ausstellungsgebäude Reithalle erhalten. Die Infobroschüre gibt es auch im Großdruck. Die Braillebroschüre wurde vom Blindeninformationszentrum BLIZ des Blinden- und Sehbehinderten-Vereins Hamburg gedruckt. Der Lageplan wurde von Inkl.Design entworfen und im Landesförderzentrum Sehen als Schwellkopie vervielfältigt.
Personalschulungen
Der Umgang mit blinden oder hochgradig sehbehinderten Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern ist für freie und feste Museumsmitarbeiter nicht unbedingt alltäglich.
Sowohl Andersicht als auch der BSVSH boten solche Schulungen an, die von den festen und freien Museumsmitarbeitern auch genutzt wurden.
Solche Schulungen helfen sehr wesentlich, Unsicherheiten im Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen abzubauen.
Wie spreche ich eine Person an, die mich nicht sieht?
Wie erkläre ich einen Raum einen Weg?
Wie begleite ist nichtsehende Menschen durch eine Tür, über eine Treppe zu einem Objekt?
Wie stelle ich Körperkontakt zu einem Objekt her, was ertastet werden kann?
Diese und viele weitere Fragen werden vom erfahrenen und bewährten Andersicht-Schulungsteam Dolle/Lossmann in Verbindung mit viel Wissenswertem über Blindheit und Sehbehinderung in praktischen Übungen vermittelt, was unter Pandemie-Bedingungen leider nur sehr eingeschränkt möglich war.
Ein kleines Fazit
In die inklusive Gestaltung der Christopher-Lehmpfuhl-Ausstellung ging eine Vielzahl von Leistungen ein, die gründlich mit Experten in eigener Sache besprochen und auf deren Bedürfnisse hin optimiert wurden. Auch bei der Wahl der Dienstleister wurden Ratschläge aus der Fokusgruppe dankbar geprüft und oft auch berücksichtigt. Dank der Kontakte und Erfahrungen mehrerer Fokusgruppenmitglieder darf am Ende resümiert werden, dass auch alle Leistungserbringer gute Arbeit lieferten.
Das Ergebnis der Arbeit kann sich sehen, hören und fühlen lassen.
Der Workshop wurde von der Kunsthalle Kiel ausgerichtet, gemeinsam mit Andersicht e. V. vorbereitet und am 28.10.2020 durchgeführt. Teilgenommen haben Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mehrerer Museen aus Schleswig-Holstein. Die Teilnehmerzahl war durch die aktuellen Infektionsschutzregeln auf 19 Personen beschränkt.
Zielstellung und Grundidee
An ausgewählten Werken sollte erfahrbar werden, wozu der Tastsinn in der Lage ist, wo seine Grenzen sind und mit welchen Methoden und Techniken dennoch eine gelungene Kunstvermittlung für diejenigen Menschen gelingt, für die Kunst nicht mit eigenen Augen zugänglich ist.
Damit dies keine rein theoretische Veranstaltung wurde, stellten sich drei blinde Mitglieder von Andersicht für die Vermittlung zur Verfügung. Diese drei taten sich mit je fünf sehenden Personen zusammen.
Struktur, Kontur, Textur – Bilderschließung mit Hilfe von Schwellkopien
Als Referent des Vormittags wurde der Kunsthistoriker M. A. Philipp Schramm gewonnen. Corona-bedingt musste seine Anreise entfallen. So war er online aus Bamberg zugeschaltet. Seinen Part stellte er unter die Überschrift „Struktur, Kontur, Textur“. Seit ca. acht Jahren veranstaltet er auch Ausstellungsführungen für Menschen ohne Sehvermögen. Hierfür bereitet er u. a. ausgewählte Gemälde tastsinnig auf.
Als flexibles Medium hierfür haben sich die sog. Schwellkopien bewährt. Zu ihrer Herstellung wird ein Spezialpapier benutzt, das in seiner Oberflächenbeschichtung Partikel enthält, die sich unter Wärmeeinwirkung ausdehnen. Werden Grafiken darauf gedruckt, kann der Hell-Dunkel-Kontrast der Vorlage mit Hilfe eines Spezialkopierers, einer Art Heißmangel, in tastbare Texturen verwandelt werden.
Philipp Schramm begann damit, ausgewählte Gemälde zu beschreiben. Dabei führte er seine blinden Teilnehmer so, dass sie mit ihren Händen gezielt die Kopien erschlossen.
Folgendes Foto, zeigt das Ertasten der Schwellkopie.
Einige Erkenntnisse konnten die für die Kulturvermittlung zuständigen Workshop-Mitglieder dabei beobachtend gewinnen:
Physiologische Eigenheit des Tastsinns Bilder mit den Händen zu erschließen funktioniert wesentlich langsamer als das visuelle Betrachten. Verschaffen sich die Augen in kürzester Zeit einen visuellen Überblick, müssen sich die tastenden Hände das Bild Stück für Stück, Punkt für Punkt, Strich um Strich erarbeiten, um sich innnerhalb einer längeren Zeit einen Überblick zu verschaffen.
Individuelle Vielfalt der taktilen Wahrnehmung Blinde Menschen bringen unterschiedliche Erfahrungshorizonte ein. Für diejenigen, die als Kleinkind erblindeten, fehlt die Erfahrung perspektivischen Sehens, von Licht und Schatten, Spiegelungen und Farbnuancen. Auch ist der Tastsinn von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt durchaus Menschen, die ungern etwas anfassen.
Einsatz gut dosieren Das Mittel der taktilen Veranschaulichung dürfen nicht überladen werden mit unrealistischen Erwartungen. Das unter 1. und 2. Genannte hat zur Folge, dass die Tastkopie auf ihren Zweck hin optimiert werden muss. Die Darstellung ist auf Wesentliches zu reduzieren. Was die Kopie selbst nicht aussagt, wird durch die Beschreibung eingebracht.
Einsatz taktiler Anschauungsmittel Die taktile Darstellung ist also kein Wunderwerkzeug, sondern ein probates Hilfsmittel unter anderen. Sie ist gut geeignet in der Arbeit mit kleinen Gruppen blinder bzw. hochgradig sehbehinderter Menschen, denn die Abbildungen lassen sich mit vertretbarem Aufwand reproduzieren.
Struktur: Wie werden Tastkopien für Schwellpapier erstellt?
Philipp Schramm führte vor, wie er mit Hilfe einer Software zur Bildbearbeitung eine digitale Vorlage schrittweise modifiziert. Für den Workshop bereitete er eine Auswahl von 13 Tastkopien unterschiedlicher Sujets vor. Das Themenfeld reichte von der Landschaftsdarstellung des Realismus über expressionistische Portraits bis zum abstrakten Expressionismus und der neuen Figuration nach 1945.
Die unterschiedlichen Themen und Techniken bedingten unterschiedliche Herangehensweisen. Gemeinsam ist allen Bearbeitungen die interpretatorische Verdichtung auf elementare Strukturen. Jene Inhalte, die bei der Interpretation in den Mittelpunkt gerückt werden, sollten auf der Tastkopie nachvollziehbar gemacht werden. Bildinhalte, die der taktilen Erschließung des Erzählungskernes hinderlich sein könnten, werden aus der Tastvorlage entfernt und werden in der Deskription als ergänzende Information nachgereicht.
Am Beispiel des Gemäldes „Frau und Kind“ von Erich Heckel (1861–1949) zeigte der Referent, wie er mit einem Bildbearbeitungsprogramm den Bildhintergrund entfernt und Details der Kleidung und der figürlichen Schilderung modifiziert, damit sie auf der Tastkopie eine taktil erfahrbare Information ermöglichen. Dabei werden Konturen verstärkt und betont. Die Flächengestaltung wird teils als Textur übernommen, teils überarbeitet oder gelöscht.
Die Tastkopie ist keine künstlerische Reproduktion, sondern ein Hilfsmittel für die Kunstvermittlung. Sie ist verbindlicher als eine freie Nacherzählung, weil sie die Komposition der Vorlage berücksichtigt und auf ihr aufbaut. Mit überschaubarem Aufwand an Zeit und Materialeinsatz gefertigt bietet sich die Tastkopie auf Schwellpapier als eine günstige und rasch verfügbare Handreichung zu einem inklusiven Kunsterlebnis vor dem Original an.
Sehr wichtig: die Tastkopien zu Gemälden oder Grafiken sind selten selbsterklärend. Sie bedürfen der begleitenden Interpretation. Sie können blinden und sehbehinderten Kunstinteressierten auch Nachfragen erleichtern, wenn sie auf taktile oder inhaltliche Unschlüssigkeit stoßen. Auf diese Weise kann die Tastkopie Dialoge vor dem Objekt begünstigen und zu einem intensiven Kunsterlebnis beitragen.
Auf Nachfrage von Workshop-Teilnehmenden an die blinden Mitglieder von Andersicht erklärte Jürgen Trinkus, welche Bedeutung die taktile Erfahrung für ihn hat. Das Bild, das mit Hilfe der Kunstvermittelnden in seinem Kopf entsteht, wird mit Hilfe der Tastkopie verankert, geerdet, erhält einen gegenständlichen Rahmen.
Während einer Ton-Bild-Störung stellte Karl Elbl eine Alternative zur Arbeit mit fototechnisch vorbereiteten Schwellkopien vor. Mit Hilfe spezieller Marker können auf dem Spezialpapier Zeichnungen skizziert werden. Der Blindenpädagoge fertigte vor Ort eine Zeichnung an, die umgehend im mitgebrachten Fuser (Drucker für Schwellpapier) tastbar erstellt wurde.
Bildbeispiel – Reduktion eines Gemäldes für eine Schwellkopie: Iwan Iwanowitsch Schischkin, Im russischen Wald, 1896, Öl auf Leinwand, 139 x 96 cm
Wie können interessierte Kunstvermittlerinnen und -vermittler zu Schwellkopien kommen?
In Schleswig-Holstein ist das Landesförderzentrum Sehen der Kontakt für pädagogische Fragen und Hilfsmittelnutzung. Auch dort gibt es Fuser.
Philipp Schramm selbst schafft seit 8 Jahren regelmäßige Begegnungsmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen mit Kunst und nutzt seither auch das Mittel der Tastkopie. Er lässt seine Vorlagen drucken beim BIT-Zentrum – Barrierefreie Medien für blinde und sehbehinderte Menschen in München.
Für Ausstellungen stellt Philipp Schramm Tastkopien in Form eines Ordners bereit. Auf der Vorderseite je eines eingehefteten Blattes befindet sich eine Tastkopie und auf der Rückseite eine Erläuterung in Brailleschrift. Vertiefende und deskriptive Audio-Informationen können mit einem Ting-Stift abgerufen werden.
Auf Nachfrage erklärte er, dass für die Gruppenarbeit mit Tastkopien eine Gruppengröße von drei bis fünf tastenden Personen ein Optimum darstellt. Aber das ist eine Frage der Gruppendynamik; unter Umständen ist auch die Arbeit mit bis zu zehn Teilnehmenden möglich.
Bei Führungen über 90 bis 120 Minuten hat es sich als günstig erwiesen, sich auf max. fünf Kunstwerke zu beschränken bzw. zu konzentrieren. Pro Objekt veranschlagt Philipp Schramm ca. 15-20 Minuten. Mit wiederkehrenden Gruppen zu arbeiten, verkürzt Erschließungswege.
Karl Elbl zeigte kurz das Buch „Gemeinsam kreativ : Integrativer Kunstunterricht mit blinden Schülerinnen und Schülern„, veröffentlicht 2002. Die Autorinnen Susann Lokatis-Dasecke und Bärbel Wolter sind Kunsterzieherinnen im Ruhestand, die als Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen für das Landesförderzentrum Sehen inklusiv beschulte blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler und deren Lehrkräfte in Schleswig-Holstein begleitet haben und mit ihrem Buch vielfältige Handreichungen lieferten. Besagtes Buch spielte auch eine Rolle für die Referenten des Nachmittags.
Tast-Hygiene im Umgang mit Tastkopien
Die Fragen der Hygiene stellten sich auf aktuellem Hintergrund auch in diesem Workshop. Tastkopien auf Schwellpapier können mehrfach eingesetzt werden und haben bei angemessener Lagerung auch eine relativ lange Haltbarkeit. Da das Trägerpapier von einer thermoplastischen PVC-Schicht bedeckt ist, können Tastkopien bedenkenlos mit Flüssigkeiten gereinigt werden. Dabei empfiehlt sich der Einsatz von Seifenlaugen, bzw. Schmierseife. Mit Seifen lässt sich dem Corona-Virus begegnen, ohne dabei den schwarzen Toneraufdruck zu entfernen.
Vorsorglich können die Tastkopien mit einem Sprühfirnis behandelt werden. Dabei wird die Kopie von einer feinen Schicht aus Kunstharz bedeckt, was sich günstig auf die Haltbarkeit auswirken kann, ohne das Tasterlebnis einzuschränken.
Kleingruppenarbeit vor den Gemälden
Am Nachmittag wurden drei Gruppen gebildet. Je mit einer blinden Person und ausgestattet mit je einer Tastkopie ging es in die Ausstellungsräume zu den originalen Gemälden. Hier konnten die Gruppen eigene Erfahrungen sammeln mit der Erschließung der Kunstwerke unter Nutzung der taktilen Veranschaulichungsmittel.
Plastische Werke aus der Antikensammlung – nur mit Handschuhen zu berühren
Im weiteren Verlauf des Workshops ging es um plastische Reliefs und Skulpturen. Hierfür stellte die Antikensammlung der Kunsthalle zu Kiel ausgewählte Stücke aus ihrer Sammlung von Abgüssen zur Verfügung.
Auch hier zeigte sich, dass eine Erschließung allein mit fühlenden Händen ein mühseliger doch eindrucksvoller Prozess ist.
Sofern plastische Kunstwerke überhaupt betastet werden dürfen, kommen aus hygienischen Gründen und wegen der Materialschonung Handschuhe zum Einsatz. Darum diente dieser Teil des Workshops auch der Sammlung von Erkenntnissen darüber, welche Handschuhe geeignet sind und welche eher nicht. Zu vergleichen waren hier dünne textile Handschuhe und solche aus Latex.
Wichtig ist, dass die Handschuhe möglichst dünn sind. Das macht es möglich, der Formsprache des Objektes nachspüren zu können. Was der Handschuh verhindert, ist das Gefühl für das Material selbst. Diese vermittelt sich zum einen über Feinheiten in der Textur (z. B. Maserungen oder Politur), aber vor allem über das unterschiedliche Wärmeleitvermögen von Holz, Metall, Stein oder Keramik. Das kann durch die Handschuhe hindurch nicht wahrgenommen werden.
Da in Museen der Einsatz von weißen Trikothandschuhen beim Umgang mit Originalen ohnehin die Regel ist, können jene Erzeugnisse aus Baumwolle, die von Restaurator*innen und Kurator*innen verwendet werden, auch für blinde Interessierte angeboten werden. Aus diesem Grund sollten Trikothandschuhen in allen passenden Größen vorgehalten werden.
Zwei der drei Tastpersonen waren der Meinung, mit dem Latex in ihren Tasterfahrungen weniger eingeschränkt zu sein. Alle waren sich aber darin einig, dass sich die Latexfabrikate nicht angenehm tragen, weil die Hand darin ins Schwitzen kommt. Da der Kontakt mit Latex bei nicht wenigen Menschen Allergien auslöst, ist von diesem Material auch aus gesundheitlichen Erwägungen abzusehen. Überall dort, wo Handschuhe aus Kunststoff zum Einsatz kommen, haben sich aus diesem Grund mittlerweile Nitril und Vinyl als Alternativen durchgesetzt. Nitril hat gegenüber Vinyl wiederum den Vorzug der höheren Elastizität, es reißt nicht so leicht ein und vermittelt ein authentischeres Tasterlebnis.
Taktiles Design aus Lübeck – Einsatzmöglichkeiten für den 3D-Druck
Der Workshop wurde abgerundet durch die Präsentation von Möglichkeiten, den 3D-Druck für die Kunstvermittlung zu nutzen. Dazu waren als Referenten Sylvia Goldbach und Eric Bahr aus Lübeck gekommen. Gemeinsam gründeten sie Taktilesdesign.
Sie haben sich zum Ziel gestellt, die Möglichkeiten des 3D-Drucks für die blindengerechte Darstellung von Objekten nutzbar zu machen, die sich im Original nicht tastend erschließen lassen. Im Unterschied zu Schwellkopien und Reliefs, die im Vakuum-Tiefziehverfahren hergestellt werden, kann auch bei der haptischen Darstellung zweidimensionaler Werke wie Landkarten oder grafischen Werken mit einer höheren Plastizität gearbeitet werden. Es können mehrere stoffliche Materialien in ein und derselben Kopie eingesetzt werden und die Textur lässt viele Spielräume.
Durch eine differenzierende Formensprache der Textur und die Verwendung verschiedenartiger Materialien wollen Sylvia Goldbach und Eric Bahr insbesondere auch Farben fühlbar machen.
andersichtige Führungen, heute im Iwalewahaus Bayreuth
Berührt geführt – heißt der Leitspruch, unter dem sich der Kunsthistoriker Philipp Schramm schon lange um die Zugänglichmachung bildender Kunst für Menschen engagiert, die nicht mit eigenen Augen auf Entdeckungsreise gehen können. Seit einigen Wochen bietet er via Skype Touren durch die Museen dieser Welt an. Zum internationalen Museumstag 2020 führte er live durch die im Aufbau befindliche Sommerausstellung des Iwalewahauses, wo er derzeit selbst aktiv beteiligt ist am Aufbau der Sommerausstellung.
Digitale Museumsführungen sind nichts Einzigartiges mehr seit eine Pandemie den realen Ausstellungsbetrieb heruntergefahren hat. Eine virtuelle Führung auch für blinde und sehbehinderte Menschen dagegen ist so selbstverständlich nicht. Seit einigen Wochen bietet Philipp Schramm für Interessierte Online-Treffs per Skype an. Blinde wie sehende Teilnehmer saßen bei diesen Video-Schalten gleichermaßen gebannt vor ihren heimischen Computern, um sich in den Prado, das Metropolitan, das Musee d’Orsay und die Uffizien in Florenz führen zu lassen. Zum internationalen Museumstag hatte er ein ganz besonderes Event auf die Tagesordnung gesetzt.
Diejenigen in Hessen oder im weiter entfernten Schleswig-Holstein, die sich per Videochat zugeschaltet hatten, wurden von Philipp Schramm, seiner Chefin Katharina Fink und dem Kurator Francis Regis Hitimana im Iwalewahaus begrüßt und durch Arbeits- und Ausstellungsräume geführt. Verschiedene Exponate wurden besprochen und lebendig beschrieben.
Besonderer Stolz der Ausstellungsgestalter, die sich der Inklusion sehr verpflichtet fühlen, ist ein Bodenleitsystem für Blinde, das mit seinem praktischen Nutzen zugleich in die Raumästhetik der Ausstellungsräume integriert ist.
Das imaginäre Museum – so soll es digital weiter gehen
Philipp Schramm hat in mehreren Sessions seine Technik vervollkommnet und ist nun in der Lage, reale und virtuelle Museumsbesuche online inklusiv zu präsentieren.
Bei der Namensgebung für sein Angebot ließ sich Philipp Schramm von einem Essay des Schriftstellers und einstigen französischen Kulturministers André Malraux anregen. Dieser hat 1947 das Musée Imaginaire als inklusives europäisches Forum beschrieben. Ein Ort der Begegnung und des Austausches, ein Ort der Visionen und der grenzüberschreitenden Kommunikation. Malraux‘ Ideale kommen unserer Vorstellung von Museum ziemlich nahe, meint Philipp Schramm, der dieses Angebot mit seiner Firma „berührt-geführt“ ausbauen wird.