Taktile Anschauungsmittel in der Kunstvermittlung

Ein Workshop-Bericht

Der Workshop wurde von der Kunsthalle Kiel ausgerichtet, gemeinsam mit Andersicht e. V. vorbereitet und am 28.10.2020 durchgeführt. Teilgenommen haben Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mehrerer Museen aus Schleswig-Holstein. Die Teilnehmerzahl war durch die aktuellen Infektionsschutzregeln auf 19 Personen beschränkt.

Zielstellung und Grundidee

An ausgewählten Werken sollte erfahrbar werden, wozu der Tastsinn in der Lage ist, wo seine Grenzen sind und mit welchen Methoden und Techniken dennoch eine gelungene Kunstvermittlung für diejenigen Menschen gelingt, für die Kunst nicht mit eigenen Augen zugänglich ist.

Damit dies keine rein theoretische Veranstaltung wurde, stellten sich drei blinde Mitglieder von Andersicht für die Vermittlung zur Verfügung. Diese drei taten sich mit je fünf sehenden Personen zusammen.

Struktur, Kontur, Textur – Bilderschließung mit Hilfe von Schwellkopien

Als Referent des Vormittags wurde der Kunsthistoriker M. A. Philipp Schramm gewonnen. Corona-bedingt musste seine Anreise entfallen. So war er online aus Bamberg zugeschaltet. Seinen Part stellte er unter die Überschrift „Struktur, Kontur, Textur“. Seit ca. acht Jahren veranstaltet er auch Ausstellungsführungen für Menschen ohne Sehvermögen. Hierfür bereitet er u. a. ausgewählte Gemälde tastsinnig auf.

Als flexibles Medium hierfür haben sich die sog. Schwellkopien bewährt. Zu ihrer Herstellung wird ein Spezialpapier benutzt, das in seiner Oberflächenbeschichtung Partikel enthält, die sich unter Wärmeeinwirkung ausdehnen. Werden Grafiken darauf gedruckt, kann der Hell-Dunkel-Kontrast der Vorlage mit Hilfe eines Spezialkopierers, einer Art Heißmangel, in tastbare Texturen verwandelt werden.

Philipp Schramm begann damit, ausgewählte Gemälde zu beschreiben. Dabei führte er seine blinden Teilnehmer so, dass sie mit ihren Händen gezielt die Kopien erschlossen.

Folgendes Foto, zeigt das Ertasten der Schwellkopie.

Ertasten einer Schwellkopie zum Gemälde „Russischer Wald“
Ertasten einer Schwellkopie zum Gemälde „Russischer Wald“

Einige Erkenntnisse konnten die für die Kulturvermittlung zuständigen Workshop-Mitglieder dabei beobachtend gewinnen:

  1. Physiologische Eigenheit des Tastsinns
    Bilder mit den Händen zu erschließen funktioniert wesentlich langsamer als das visuelle Betrachten. Verschaffen sich die Augen in kürzester Zeit einen visuellen Überblick, müssen sich die tastenden Hände das Bild Stück für Stück, Punkt für Punkt, Strich um Strich erarbeiten, um sich innnerhalb einer längeren Zeit einen Überblick zu verschaffen.
  2. Individuelle Vielfalt der taktilen Wahrnehmung
    Blinde Menschen bringen unterschiedliche Erfahrungshorizonte ein. Für diejenigen, die als Kleinkind erblindeten, fehlt die Erfahrung perspektivischen Sehens, von Licht und Schatten, Spiegelungen und Farbnuancen. Auch ist der Tastsinn von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt durchaus Menschen, die ungern etwas anfassen.
  3. Einsatz gut dosieren
    Das Mittel der taktilen Veranschaulichung dürfen nicht überladen werden mit unrealistischen Erwartungen. Das unter 1. und 2. Genannte hat zur Folge, dass die Tastkopie auf ihren Zweck hin optimiert werden muss. Die Darstellung ist auf Wesentliches zu reduzieren. Was die Kopie selbst nicht aussagt, wird durch die Beschreibung eingebracht.
  4. Einsatz taktiler Anschauungsmittel
    Die taktile Darstellung ist also kein Wunderwerkzeug, sondern ein probates Hilfsmittel unter anderen. Sie ist gut geeignet in der Arbeit mit kleinen Gruppen blinder bzw. hochgradig sehbehinderter Menschen, denn die Abbildungen lassen sich mit vertretbarem Aufwand reproduzieren.

Struktur: Wie werden Tastkopien für Schwellpapier erstellt?

Philipp Schramm führte vor, wie er mit Hilfe einer Software zur Bildbearbeitung eine digitale Vorlage schrittweise modifiziert. Für den Workshop bereitete er eine Auswahl von 13 Tastkopien unterschiedlicher Sujets vor. Das Themenfeld reichte von der Landschaftsdarstellung des Realismus über expressionistische Portraits bis zum abstrakten Expressionismus und der neuen Figuration nach 1945.

Die unterschiedlichen Themen und Techniken bedingten unterschiedliche Herangehensweisen. Gemeinsam ist allen Bearbeitungen die interpretatorische Verdichtung auf elementare Strukturen. Jene Inhalte, die bei der Interpretation in den Mittelpunkt gerückt werden, sollten auf der Tastkopie nachvollziehbar gemacht werden. Bildinhalte, die der taktilen Erschließung des Erzählungskernes hinderlich sein könnten, werden aus der Tastvorlage entfernt und werden in der Deskription als ergänzende Information nachgereicht.

Am Beispiel des Gemäldes „Frau und Kind“ von Erich Heckel (1861–1949) zeigte der Referent, wie er mit einem Bildbearbeitungsprogramm den Bildhintergrund entfernt und Details der Kleidung und der figürlichen Schilderung modifiziert, damit sie auf der Tastkopie eine taktil erfahrbare Information ermöglichen. Dabei werden Konturen verstärkt und betont. Die Flächengestaltung wird teils als Textur übernommen, teils überarbeitet oder gelöscht.

Die Tastkopie ist keine künstlerische Reproduktion, sondern ein Hilfsmittel für die Kunstvermittlung. Sie ist verbindlicher als eine freie Nacherzählung, weil sie die Komposition der Vorlage berücksichtigt und auf ihr aufbaut. Mit überschaubarem Aufwand an Zeit und Materialeinsatz gefertigt bietet sich die Tastkopie auf Schwellpapier als eine günstige und rasch verfügbare Handreichung zu einem inklusiven Kunsterlebnis vor dem Original an.

Sehr wichtig: die Tastkopien zu Gemälden oder Grafiken sind selten selbsterklärend. Sie bedürfen der begleitenden Interpretation. Sie können blinden und sehbehinderten Kunstinteressierten auch Nachfragen erleichtern, wenn sie auf taktile oder inhaltliche Unschlüssigkeit stoßen. Auf diese Weise kann die Tastkopie Dialoge vor dem Objekt begünstigen und zu einem intensiven Kunsterlebnis beitragen.

Auf Nachfrage von Workshop-Teilnehmenden an die blinden Mitglieder von Andersicht erklärte Jürgen Trinkus, welche Bedeutung die taktile Erfahrung für ihn hat. Das Bild, das mit Hilfe der Kunstvermittelnden in seinem Kopf entsteht, wird mit Hilfe der Tastkopie verankert, geerdet, erhält einen gegenständlichen Rahmen.

Während einer Ton-Bild-Störung stellte Karl Elbl eine Alternative zur Arbeit mit fototechnisch vorbereiteten Schwellkopien vor. Mit Hilfe spezieller Marker können auf dem Spezialpapier Zeichnungen skizziert werden. Der Blindenpädagoge fertigte vor Ort eine Zeichnung an, die umgehend im mitgebrachten Fuser (Drucker für Schwellpapier) tastbar erstellt wurde.

Bildbeispiel – Reduktion eines Gemäldes für eine Schwellkopie:
Iwan Iwanowitsch Schischkin, Im russischen Wald, 1896, Öl auf Leinwand, 139 x 96 cm

Schischkin, Im russischen Wald
Schischkin, Im russischen Wald; reduzierte Schwellpapierdarstellung; Abbildung des Originalgemälde von Schischkin. Es zeigt eine Waldlandschaft. Beim Betrachten scheinen wir mitten in diesem Wald zu stehen. Ein Stück vom Himmel ist nicht zu erkennen. Die Ränder des Bildes sind mit emporragenden Tannen gesäumt. In der Mitte liegt ein Baumstamm, der vertikal in das Bild hineinführt. Der Stamm und der Waldboden sind mit Efeu bedeckt. (Die Farbe Grün dominiert in verschiedenen Schattierung.) Die Abbildung zeigt die Zwischenstufe der Reduktion des Gemäldes. Noch sind etliche Details im Bild, die weiter vereinfacht werden müssen. Die Abbildung zeigt die finale Reduktion des Gemäldes, die für den Druck der Schwellkopie verwendet wird.

Wie können interessierte Kunstvermittlerinnen und -vermittler zu Schwellkopien kommen?

Schwellkopien werden seit ca. 40 Jahren in der Blindenpädagogik und im Orientierungsunterricht durch Rehabilitationslehrerinnen und Lehrer eingesetzt. Diese verfügen meist über eigene Fuser und das Spezialpapier. Ansprechbar dafür ist der Berufsverband der Rehabilitationslehrer/-lehrerinnen für Blinde und Sehbehinderte e. V..

In Schleswig-Holstein ist das Landesförderzentrum Sehen der Kontakt für pädagogische Fragen und Hilfsmittelnutzung. Auch dort gibt es Fuser.

Philipp Schramm selbst schafft seit 8 Jahren regelmäßige Begegnungsmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen mit Kunst und nutzt seither auch das Mittel der Tastkopie. Er lässt seine Vorlagen drucken beim BIT-Zentrum – Barrierefreie Medien für blinde und sehbehinderte Menschen in München.

Neben seiner wissenschaftlichen und kuratorischen Tätigkeit im Iwalewahaus an der Universität Bayreuth bietet er seine Kompetenzen auch freiberuflich an.  

Für Ausstellungen stellt Philipp Schramm Tastkopien in Form eines Ordners bereit. Auf der Vorderseite je eines eingehefteten Blattes befindet sich eine Tastkopie und auf der Rückseite eine Erläuterung in Brailleschrift. Vertiefende und deskriptive Audio-Informationen können mit einem Ting-Stift abgerufen werden.

Auf Nachfrage erklärte er, dass für die Gruppenarbeit mit Tastkopien eine Gruppengröße von drei bis fünf tastenden Personen ein Optimum darstellt. Aber das ist eine Frage der Gruppendynamik; unter Umständen ist auch die Arbeit mit bis zu zehn Teilnehmenden möglich.

Bei Führungen über 90 bis 120 Minuten hat es sich als günstig erwiesen, sich auf max. fünf Kunstwerke zu beschränken bzw. zu konzentrieren. Pro Objekt veranschlagt Philipp Schramm ca. 15-20 Minuten. Mit wiederkehrenden Gruppen zu arbeiten, verkürzt Erschließungswege.

Karl Elbl zeigte kurz das Buch „Gemeinsam kreativ : Integrativer Kunstunterricht mit blinden Schülerinnen und Schülern„, veröffentlicht 2002. Die Autorinnen Susann Lokatis-Dasecke und Bärbel Wolter sind Kunsterzieherinnen im Ruhestand, die als Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen für das Landesförderzentrum Sehen inklusiv beschulte blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler und deren Lehrkräfte in Schleswig-Holstein begleitet haben und mit ihrem Buch vielfältige Handreichungen lieferten. Besagtes Buch spielte auch eine Rolle für die Referenten des Nachmittags.

Tast-Hygiene im Umgang mit Tastkopien

Die Fragen der Hygiene stellten sich auf aktuellem Hintergrund auch in diesem Workshop. Tastkopien auf Schwellpapier können mehrfach eingesetzt werden und haben bei angemessener Lagerung auch eine relativ lange Haltbarkeit. Da das Trägerpapier von einer thermoplastischen PVC-Schicht bedeckt ist, können Tastkopien bedenkenlos mit Flüssigkeiten gereinigt werden. Dabei empfiehlt sich der Einsatz von Seifenlaugen, bzw. Schmierseife. Mit Seifen lässt sich dem Corona-Virus begegnen, ohne dabei den schwarzen Toneraufdruck zu entfernen.

Vorsorglich können die Tastkopien mit einem Sprühfirnis behandelt werden. Dabei wird die Kopie von einer feinen Schicht aus Kunstharz bedeckt, was sich günstig auf die Haltbarkeit auswirken kann, ohne das Tasterlebnis einzuschränken.

Kleingruppenarbeit vor den Gemälden

Am Nachmittag wurden drei Gruppen gebildet. Je mit einer blinden Person und ausgestattet mit je einer Tastkopie ging es in die Ausstellungsräume zu den originalen Gemälden. Hier konnten die Gruppen eigene Erfahrungen sammeln mit der Erschließung der Kunstwerke unter Nutzung der taktilen Veranschaulichungsmittel.

Plastische Werke aus der Antikensammlung – nur mit Handschuhen zu berühren

Im weiteren Verlauf des Workshops ging es um plastische Reliefs und Skulpturen. Hierfür stellte die Antikensammlung der Kunsthalle zu Kiel ausgewählte Stücke aus ihrer Sammlung von Abgüssen zur Verfügung.

Auch hier zeigte sich, dass eine Erschließung allein mit fühlenden Händen ein mühseliger doch eindrucksvoller Prozess ist.

Sofern plastische Kunstwerke überhaupt betastet werden dürfen, kommen aus hygienischen Gründen und wegen der Materialschonung Handschuhe zum Einsatz. Darum diente dieser Teil des Workshops auch der Sammlung von Erkenntnissen darüber, welche Handschuhe geeignet sind und welche eher nicht. Zu vergleichen waren hier dünne textile Handschuhe und solche aus Latex.  

Wichtig ist, dass die Handschuhe möglichst dünn sind. Das macht es möglich, der Formsprache des Objektes nachspüren zu können. Was der Handschuh verhindert, ist das Gefühl für das Material selbst. Diese vermittelt sich zum einen über Feinheiten in der Textur (z. B. Maserungen oder Politur), aber vor allem über das unterschiedliche Wärmeleitvermögen von Holz, Metall, Stein oder Keramik. Das kann durch die Handschuhe hindurch nicht wahrgenommen werden.

Da in Museen der Einsatz von weißen Trikothandschuhen beim Umgang mit Originalen ohnehin die Regel ist, können jene Erzeugnisse aus Baumwolle, die von Restaurator*innen und Kurator*innen verwendet werden, auch für blinde Interessierte angeboten werden. Aus diesem Grund sollten Trikothandschuhen in allen passenden Größen vorgehalten werden.

Zwei der drei Tastpersonen waren der Meinung, mit dem Latex in ihren Tasterfahrungen weniger eingeschränkt zu sein. Alle waren sich aber darin einig, dass sich die Latexfabrikate nicht angenehm tragen, weil die Hand darin ins Schwitzen kommt. Da der Kontakt mit Latex bei nicht wenigen Menschen Allergien auslöst, ist von diesem Material auch aus gesundheitlichen Erwägungen abzusehen. Überall dort, wo Handschuhe aus Kunststoff zum Einsatz kommen, haben sich aus diesem Grund mittlerweile Nitril und Vinyl als Alternativen durchgesetzt. Nitril hat gegenüber Vinyl wiederum den Vorzug der höheren Elastizität, es reißt nicht so leicht ein und vermittelt ein authentischeres Tasterlebnis.

Taktiles Design aus Lübeck – Einsatzmöglichkeiten für den 3D-Druck

Der Workshop wurde abgerundet durch die Präsentation von Möglichkeiten, den 3D-Druck für die Kunstvermittlung zu nutzen. Dazu waren als Referenten Sylvia Goldbach und Eric Bahr aus Lübeck gekommen. Gemeinsam gründeten sie Taktilesdesign.

Sie haben sich zum Ziel gestellt, die Möglichkeiten des 3D-Drucks für die blindengerechte Darstellung von Objekten nutzbar zu machen, die sich im Original nicht tastend erschließen lassen. Im Unterschied zu Schwellkopien und Reliefs, die im Vakuum-Tiefziehverfahren hergestellt werden, kann auch bei der haptischen Darstellung zweidimensionaler Werke wie Landkarten oder grafischen Werken mit einer höheren Plastizität gearbeitet werden. Es können mehrere stoffliche Materialien in ein und derselben Kopie eingesetzt werden und die Textur lässt viele Spielräume.

Durch eine differenzierende Formensprache der Textur und die Verwendung verschiedenartiger Materialien wollen Sylvia Goldbach und Eric Bahr insbesondere auch Farben fühlbar machen.

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